Von Teos Romvos

Im 36. Kapitel seines autobiografischen Romans Rohstoff spricht der Schriefsteller Jörg Fauser über unseren misslungenen Versuch, gemeinsam einen Film zu drehen (1971).
Er hatte das Script verfasst. Ich war für das Übrige zuständig. Während der Dreharbeiten gab es gute und schlimme Momente großer Anspannung; ich war damals ziemlich down, und zwar wegen Midilou (der archetipischen Femme fatale, die mich die meisten jähre meiner Schriftstellerei begleitet).
Zwei Jahre später — wir wohnten inzwischen zusammen in der Wittelsbacherallee 97 in Frankfurt — haben Jörg und ich eine 90-Minuten Audiokasette Prosa aufgenommen: Road to Morocco.*
Kurz danach trennten wir uns auf gewalttärige Art und Weise; wir prugelten uns, der Femme fatale wegen, und daraufhin trennten sich unwiderruflich unsere Wege.
1981-83, ich lebte in Kranidi (Peloponnes), schrieb ich das Buch Drei Monde auf dem Platz, und in dem Abschnitt Wandern in Tophane beziehe ich mich erstmalig auf Jörg.
Offenkundig ungefähr zur selben Zeit beschreibt auch er in seinem autobiografischen Roman Rohstoff mit einer kräftigen Portion Humor und Sarkasmus verschiedene Leute, die er in Istanbul, in den Kommunen Berlins und in der Frankfurter Szene getroffen hatte, wobei er Sie wirklichen Namen änderte. In Kapitel 27 des Buchs bezieht er sich auf unseren gemeinsamen Freund, den griechischen Regisseur Dimos Theos (Kierion, 1967), mit dem er zeitweise zussammenwonnte, während das 36. Kapitel* sich einer Episode unseres gemeinsamen Lebens widmet und auf seine Weise erklärt, warum der Film, Lazarus Go Home, den wir 1971 zusammen zu drehen begonnen hatten, niemals fertig wurde. (*Ich komme als Niko vor).
Ich habe mich in meinen Büchern wiederholt auf meinen geliebten Freund Jörg Fauser bezogen. Außer Wandern in Tophane widmete ich Jörg die Erzählung La Finta, die in der Zeitschrift Ideodromio 1989 veröffentlicht wurde; in meinem Buch TextLeidenschaft ist Jörg eine wichtige Figur der Ernählung, aber er taucht auch auf in den Geheimen Reisen (2005), in dem Text Mein Lieblingsschrifsteller…
Wen es interessiert, kann hier den unvollendeten Film Lazarus Go Home (1971)
ansehen:
Es treten darin auf: Jörg Fauser, Jürgen Ploog, Christina Volz, Kurt Stalter, Inge, Hanni und Klaus, und es sei mir bitte verziehen, dass ich aus meinem umdunkelten Cehirn den Lazarus und die übrigen mir lieben Leute nicht ans Licht zu ziehen vermag…
Road to Morroco. Eine Audio-Revue von Jörg Fauser und Teos Romvos. C-90,
The Matsukas Real Life Company. Franfurt 1973.
Zeitschrifft DreckSack, Juli 2014

36. Kapitel
Kamera ab!« rief der Regisseur.
»Kamera läuft!« rief der Kameramann.
»Action!« rief der Regisseur.
In diesem Augenblick drängte sich einer von den Junkies vor die Kamera und sagte zu mir: »He, dich kenn ich doch, was machst du denn hier?«
»Das siehst du doch«, sagte ich, »wir drehen einen Film.«
»Oh, Scheiße, Mann, und ich dachte, du hättest einen Schuß für mich.«
Die anderen Junkies und Kiffer in dem Spielsalon an der Haschwiese waren auch nicht besonders angetan, aber Niko hatte trotz meiner Bedenken gerade auf diesem Drehort bestanden, und wenn ich auch das Szenario für den Film geschrieben hatte, er war der Regisseur, der Mann, der das Kommando hatte. Außerdem verstand er angeblich wirklich etwas vom Film. Niko hatte ich seinerzeit durch Dimitri kennengelernt. Er war aus Athen, so alt wie ich und arbeitete als Kameraassistent beim Hessischen Rundfunk, wo er sich auch die Kamera ausgeliehen hatte. Die Kamera bediente ein jugoslawischer Kollege, der auch das Licht machte. Den Ton sollte Nikos Freundin Anette machen, aber im Spielsalon drehten wir lieber trocken. Die Kamera war schon schlimm genug, mit Tonband hätten die Statisten nicht mitgemacht, die wir für die Szene brauchten. Die Hälfte von ihnen wurde von den Bullen gesucht, und die andere Hälfte nur deshalb nicht, weil die Bullen ohnehin wußten, wo sie sie finden konnten. Plopp. Eine Birne war geplatzt. Macht nichts. Der Hessische Rundfunk hat genug. Der Junkie hatte immer noch nicht begriffen, daß er uns im Weg stand. Er hatte rote Haare, eine blaue Brille und ein Rattenlächeln.
»He, was ist denn das für eine Masche? Du bist jetzt beim Film? So wie Charles Bronson, he?« »Du, geh doch mal aus der Kamera.«
»Komm, gib mir mal einen Kaffee aus. Ich hab dir immer sauberes Zeug geliefert, hä? Sag mal, was gibt das denn, wenn’s fertig ist?«
»Zwei Kaffee«, sagte ich zu der Pächterin.
»Mit viel Zucker. Ja, weißt du, das ist nur so ein Versuch, was auf die Beine zu stellen. Wenn’s klappt, drehn wir dann einen Spielfilm.«
»Ah ja? Und was machst du dabei, Kabelträger oder so?« »Ich hab das Buch geschrieben, weißt du, ich schreib ja.«
»Ah so, wußte ich gar nicht. He, ich will ja nichts sagen, aber du bist irgendwie fett geworden, richtig aufgeschwemmt. Du hast doch nicht aufgehört?«
»Doch, hab ich.«
»Logo, da sieht man’s wieder, das bringt auch nichts. Du siehst ja richtig krank aus. He, meinst du nicht, daß es da für mich auch einen Job gibt? Ich könnte dir auch Berliner Tinke besorgen, weißt du, die richtig geile, damit du wieder in Form kommst, Alter . . .«
»Ich sag dir doch, ich hab aufgehört mit dem Scheiß.«
Ich ließ ihn da stehen mit seinem Rattenlächeln und den Draculazähnen. Der Junk war es nicht mal, es war der Zucker, der sie fertigmachte. Jetzt fielen gleich mehrere Lampen aus. Kurzschluß. Der Jugoslawe verzog sein Gesicht. Er mochte das alles gar nicht, und wenn es hoch kam, bekam er dafür ein Schnitzel und ein Bier. Aber er war Nikos Freund, und dann war es vielleicht auch eine Abwechslung von den Dorfgemeinschaftshäusern, den Autobahnstreckeneinweihungen und den betrunkenen Kommunalpolitikern, die sie für die Hessenschau abfilmten.
»Ich finde, wir können auf diese Szene auch verzichten«, sagte ich zu Niko.
»Es ist dein Szenario«, sagte er und kraulte seinen Bart.
»Ich finde es schon wichtig, daß der Zuschauer sofort sieht, in welchem Milieu der Held lebt, ohne daß wir das groß erklären müssen.« »Ja, aber du siehst doch, hier ist das nichts. Diese Typen nerven uns doch nur. Ich kann mir ja auch etwas anderes einfallen lassen statt dieser Szene.«
Niko wiegte bedenklich sein Haupt mit dem vielen Haar und den großen Augen.
»Wir sind Profis, uns nervt niemand so leicht. Aber du mußt ja wissen, wenn du es anders willst . . .«
»Guck doch mal, Niko«, sagte Anette, »unsere beiden Schauspieler sind auch ganz nervös.«
Die beiden >Schauspieler< waren Bramstein, mein Mitarbeiter bei der Zero Zeitung, und ein Freund, der noch wüster aussah.
»Misch dich bitte nicht ein«, fuhr Niko seine Freundin an, »was verstehst du von Schauspielern, bitte sehr? Schauspieler sind immer nervös, die müssen spielen und ansonsten den Mund halten, weißt du nicht, was Hitchcock über Schauspieler gesagt hat? Also, bitte, die Szene noch einmal. Kamera ab!«
Ich versuchte, mich unauffällig im Hintergrund zu halten, aber ich wußte, daß der Junkie schon am Tuscheln war. Daß Typen mit dem Zeug vorübergehend mal aufhörten, kam ja vor. Aber daß sie dann gleich hingingen und da, wo sie gestern noch um einen Schuß gebettelt hatten, einen Film drehten, das war eine neue Variante, dem Affen Zucker zu geben.
Das Filmchen sollte eine kleine Hommage an die Gangsterfilme von Melville werden, eine absolut durchstilisierte Sequenz einiger nur lose zusammenhängender Szenen, eine Collage von Ritualen — der Treff, die Übergabe, die geheimnisvolle Frau, der Todesschuß —, ein harmloses Spiel mit Licht und Schatten und Träumen, hatte ich geglaubt. Ein schöner Spaß. Das Schreiben hatte Spaß gemacht. Es war ja auch nicht schwer gewesen. Für Atmosphäre hatte ich etwas übrig, und den Rest würde Niko besorgen.
Aber Niko entfaltete einen Wirbel von Aktionen, das mußte nun plötzlich alles >professionell< sein, er wollte es, hatte ich den Verdacht, nun doch wissen und es seinen Bekannten im Fernsehen zeigen, daß er ein richtiger Filmemacher war, und den verachteten deutschen Jungfilmern, diesem Wenders, diesem Wyborny und wie sie hießen. Dabei war es ihm ganz gleich, um welches Drehbuch es ging, ich hatte den Eindruck, ohne Drehbuch hätte er auch gedreht, und von meinem ausgetüftelten, bedeutungsschweren Dialog schien ohnehin fast alles unter den Tisch zu fallen. Und alles ohne Aussicht auf irgendeine Art von Entlöhnung. Diese Leute hatten ja alle einen Job oder ein Studium, ein Haus in Aussicht oder den Doktortitel, nur ich hatte nichts, nicht mal einen Aushilfsjob. Bei der Germania hatte ich mich abgemeldet. Mit 28 konnte man nicht seine Nächte herschenken. Und daß der Stamboul Blues im Herbst die literarische Welt aufhorchen lassen würde, nahm selbst der Verleger nicht an. Er hatte die Auflage auf 500 festgesetzt und wollte Typoskript und Druck selbst machen. Ich wohnte schon wieder bei meinen Eltern. Die Lage war gespannt. Ich war nie gern zur Schule gegangen, doch damals hatten die Dinge entschieden rosiger ausgesehen.
»Action!« rief Niko. Bramsteins Freundin, die an der Straße postiert war, hob die Arme und winkte, und wir hörten, wie Bramsteins alte Mühle losknatterte. Dann kam sie auch schon um die Ecke und in den Hof gebogen, und im gleichen Moment kickten die Jungs, die nebenan Fußball spielten, den Ball über den Zaun. Er trudelte vor das Auto, das Bramstein rasant stoppte.
»Aus!« rief Niko, schnappte sich den Ball und warf ihn den Jungs zu. Er lachte. Das war nun schon das fünfzehnte Mal, daß diese Einstellung gedreht wurde, aber solange er Film hatte, würde Niko weiterdrehen.
»Du mußt viel genauer fahren in der Kurve«, sagte er zu Bramstein, der als Gangster kostümiert war — dunkler Hut, dunkler Mantel, dunkle Brille —, und demonstrierte es ihm. »Sieh mal, der Kamerawinkel ist so, und wenn du da einen Meter hinaus kommst, dann verschwindest du aus dem Bild, so — aber wenn ich dahin schwenke, dann hab ich diesen blöden Hintergrund mit dem Kinderspielplatz, unmöglich . . .«
»Wieso eigentlich?« Bramstein fühlte sich auch zum Filmemacher berufen. »Gerade der Kinderspielplatz als Hintergrund hätte doch einen ziemlich starken Symbolcharakter, damit kommt eine ganz neue Ambivalenz in die Szene, meinst du nicht?«
Anette gab mir schon dringende Zeichen, aber Niko war nicht mehr zu bremsen. Er ballte die Fäuste.
»Also, willst du das jetzt so machen, wie wir besprochen haben, oder was ist das? Du übernimmst die Regie, eh? Du hast auch das Drehbuch geschrieben, ja? Es ist dein Film, seh ich das richtig?«
Er sah so aus, als würde er sich jeden Augenblick auf Bramstein stürzen, aber der als Pfälzer ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Davon kann doch gar keine Rede sein, Niko«, sagte er, »ich find aber auch, bei so einer Art Film muß es doch möglich sein, daß jeder seine Ideen einbringt, ich meine, du brauchst hier doch keine autoritäre Show abzuziehn wie meinetwegen bei einer richtigen Großproduktion, und dann der Hitchcock oder der Melville, wir sind doch alle Freunde, gell ?«
»So, Freunde?« Damit kam er bei Niko ganz schlecht an.
»Ich will dir mal etwas sagen, du hast vom Film keine Ahnung . . .«
»Jetzt laß doch, Niko«, rief Anette, »laß uns doch weitermachen, es regnet gleich.«
»Du bist still!« donnerte Niko.
»Beim Film ist es ganz gleich, ob er fünf Minuten dauert oder fünf Stunden, da steht ein Name, das ist der Regisseur, und der hat Verantwortung dafür, und das bedeutet, er bestimmt, wie jede einzelne Sekunde von diesem Film aussieht, verstehst du, jeder Zentimeter gehört ihm und nur ihm, geht das in deinen Kopf?«
»Aber Niko«, sagte Bramstein, der so stur sein konnte wie eine Pfälzer Dauerwurst, »der Buriuel und der Dali . . .«
»Bist du verrückt? Was kommst du mit und der Dali…« Niko geriet allmählich außer sich. » ist ein Gott, was kommst du mit Gott jetzt, was machst du? Wer bist du, damit du diesen Namen überhaupt in den Mund nehmen darfst? Du spielst hier eine Rolle, du bist hier als Schauspieler, ich möchte lieber i sagen als Darsteller, du nimmst nicht Bufluel in den Mund und (diskutierst hier, entweder du hältst dich an meine Anweisungen, oder du kannst gehn !« »Niko«, sagte ich, »das muß doch nicht sein. Das ist doch lächerlich, so einen Streit jetzt vom Zaun zu brechen, , Dali, Jesus, wir machen hier doch nur einen kleinen Laienfilm, wenn wir Glück haben, wird der mal bei irgendeinem Kurzfilmfestival nachts um halb zwei gezeigt…« »So? Wenn du das glaubst, dann kannst du den Film bitte sehr selbst machen.« Niko spie diese Worte zusammen mit einem Tabakkrümel aus und wart’ uns beiden noch einen Blick zu, der uns für alle Zeiten aus den heiligen Hallen der Filmkunst verbannte. Im Grunde gab ich ihm natürlich recht. Bramstein hätte ruhig das Maul halten können. Jetzt war es also auch damit Essig. Es wurde ja wohl auch Zeit, daß ich mit diesem Unsinn Schluß machte und mir einen Job suchte. Vielleicht gab es doch noch irgendein Loch im Kulturbetrieb, durch das ich schlüpfen konnte. Irgend etwas in irgendeinem dritten oder vierten Programm, es gab Leute, die seit 25 Jahren Landfunk machten, Kirchenfunk, brauchten die vielleicht nicht jemand, der ihnen ein paar flotte neue Sätze zur Situation der Rübenernte schrieb, der weiblichen Kandidatinnen für die Mission in Melanesien? Niko baute schon die Kamera ab. Der Jugoslawe war unterwegs mit der Hessenschau, ein Feature über Kirchenglocken im Vogelsberg. Plötzlich ging irgendwo im Hinterhaus ein Fenster auf, und jemand rief: »Die haben den Baader geschnappt!«
37. Kapitel
Aus dem Film ist nichts geworden, aber ich fand einen Job. Die Flughafen AG suchte dringend Leute, ihr neuer computergesteuerter Gepäckverteiler war zusammengebrochen, also war die gute alte Handarbeit wieder angesagt, das Aushilfskräftewesen. Da ich inzwischen nicht mehr als Student durchging, mußte ich mich aber als hauptberuflicher Gepäckarbeiter melden. Vierzehn Tage saß ich in einer Ausbildungsklasse mit den anderen Aspiranten auf den öffentlichen Dienst, wohlbeleibten Portugiesen, denen es bei der Müllabfuhr zu strapaziös war, schweigsamen Türken, die auf ein Hotel am Schwarzen Meer sparten, älteren Facharbeitern aus der Chemiebranche mit halb zerfressenen Lungen, die sich murrend umschulen ließen auf einen Job, der ihnen nur die Hälfte brachte, und zweifelhaften Figuren aus der Hauptbahnhof und B-Ebene-Szenenie, die jeden Morgen mit den Plastiktüten anrückten, die ihre Habe enthielten, und stur und stumm den Unterricht absaßen, bis ihnen der entnervte Schulungsleiter 200 DM Abschlag anwies. Es gab Spezialisten, die auf dieser Masche durch die Republik reisten, von Kiel bis Friedrichshafen, überall, wo der öffentliche Dienst einstellte. Nur einer von ihnen war nach den vierzehn Tagen noch übrig, und der blieb auch nur bis zur ersten Lohnabrechnung. Als sie seinen Spind aufmachten, purzelten ihnen Dutzende von Lunchpaketen entgegen, die er aus den Abfallcontainern gefischt hatte. Die Penner an der B-Ebene hatten anscheinend doch gehobenere gastronomische Ansprüche. Am Ende des Lehrgangs gab es eine schriftliche Prüfung, bei der ich als Bester abschnitt, was nichts weiter besagte – ich hatte schon immer ein gutes Zahlen- und Chiffrengedächtnis, und in der Hauptsache ging es hier um die international gebräuchlichen Abkürzungen für die Flughäfen, LAX = Los Angeles. Damit konnten sie mich nicht reinlegen. Meine Punktzahl hatte es seit drei Jahren nicht gegeben. Kaum war ich eine Woche dabei und betrachtete mißmutig die Schwielen, die ich mir an den Gepäckkarren holte, wurde ich zum Boß der Abteilung zitiert. Er konnte es gar nicht glauben und fragte mich gleich noch mal ab. »BGK?« »Bangkok.« »Tja«, sagte er, »ich sehe, Sie haben ja auch das Abitur, das ist ja etwas ungewöhnlich, daß Sie jetzt hier Gepäckarbeiter sind . . .«
Er sah mich an. Ich rückte meine Brille gerade und sagte nichts. Die Achselpartien meines grauen FAG-Gepäckarbeiterhemds waren schweißgetränkt. »Na ja«, sagte er, »wir haben ja alle mal irgendwo klein angefangen, und hier bei der FAG gibt es doch enorme Aufstiegsmöglichkeiten, wenn Sie sich verbessern wollen.«
»Ja, was wäre das denn?«
»Also, ich könnte mir vorstellen, daß Sie in einem Jahr die Facharbeiterprüfung machen, wenn Sie in diesem Bereich bleiben wollen, Sie können dann Vorarbeiter werden, bis hin zum Abteilungsleiter steht Ihnen da einiges offen, die Gepäckabfertigung wird ja auch vom Innovativen her immer wichtiger. Oder Sie könnten in den technischen Bereich überwechseln, die FAG ist ja zuständig, wie Sie sicher schon wissen, für die direkte Flugzeugabfertigung an der Rampe und im Vorfeld, der Lotsendienst, auch da ist natürlich die technische Entwicklung interessant . . .« »Ach«, sagte ich, »ich glaub, ich bleibe dann erst mal beim Gepäck.« »Richtig«, sagte er und stand auf, »machen Sie sich mit allem vertraut, dann sehn wir weiter. Übrigens, sind Sie bei der ÖTV?« »Nein.« »Überlegen Sie sich das mal, Herr Gelb.« Ich ging zurück in die Halle C und lud die Koffer der Charterreisenden auf die Karren. Teneriffa, Palma de Mallorca, Dubrovnik, Kreta, Mombasa. Merkwürdig, wie wenige Abweichungen es beim Gepäck gab, es gab den bräunlichen Kunstlederkoffer und den grauen Samsonite, es gab den Plastikrucksack und auch noch die abgewetzte Reisetasche aus Schweinsleder, es gab den genormten Kosmetikcase und hin und wieder etwas aus Metall, es gab die Spezialkoffer für die Anzüge des feinen Mannes und die schweren schwarzen Kracher mit ihren festgeschraubten Rollen, aber das war doch alles Einheitsnorm, und so schwärmten sie aus zu ihren Einheitshotels und Einheitsmenüs unter die Einheitspalmen am Einheitsstrand. Eine ziemlich langweilige Welt. Ich machte den letzten Karren fertig, dann holte ich mir eine Cola und mein Buch. Es war wieder ein Job, der einem Zeit zum Lesen gab.
Eines Tages war ich mit Niko in der Stadt und traf Anita, als sie aus dem Kaufhof kam. Seit unserem stürmischen, aber jäh unterbrochenen Versuch auf meiner alten Matratze waren erst wenige Monate vergangen, aber wir hatten uns beide ganz schön verändert. Ich hatte in der Personalkantine der FAG bei Schnitzel mit Pommes frites und Büchsenbier etliche Kilo zugelegt, und Anita war richtig aufgeblüht. Ihre Augen glühten vor Hitze, ihre Haare standen in Flammen, ihr Mund hatte keinen Lippenstift nötig, um feuerrot zu brennen. Man brauchte sie nur einen Augenblick anzusehen, um zu wissen, was los war. Es war ein Wunder, daß die Luft um sie herum keine Funken sprühte. »Niko«, sagte ich, »du verbringst das Wochenende doch sicher bei Anette.« Er verstand und gab mir seinen zweiten Schlüssel.
Niko hatte Dimitris alte Mansarde. Es war ein komisches Gefühl, wieder da oben unterm Dach zu stehn, in dem vertrauten Geruch nach Staub, ungelüfteten Betten und Mäusedreck, den Niko noch mit schwarzen Zigaretten und dem Zeug anreicherte, mit dem er seine Fotos entwickelte. Ich stemmte die schräge Fensterluke auf, aber die Luft stand draußen auch, ein schwüler Samstagabend mit allem, was dazugehörte, mit den Bränden, den Fußballspielen, den Schwofs, den Schlägereien, den Besäufnissen, Mord und Totschlag. Ein Polizeihubschrauber knatterte über dem Westend. Anita brauchte keine Einleitung, keine Pink Floyd, kein Glas Rose, keine Salzletten, keine beredteri Blicke, keine witzigen Bemerkungen und auch keine sentimentalen, keine Schnurre, keine Zigarette, keine Hand, die wie zufällig ihr Knie berührte, keinen in die Haare gehauchten Kuß, keine Erinnerung, sie brauchte nur einen Platz für ihre spärliche Bekleidung und eine Schulter zum Reinbeißen und all das, Anita brauchte Sex.
»Hör mal«, sagte ich etwas später, nach Luft ringend, »ich hab morgen die erste Schicht, ich muß um fünf raus.«
»Was heißt das denn?«
»Tja, Anita, ein paar Stunden Schlaf brauch ich doch auch.«
»Schlafen kannst du bei der Arbeit«, flüsterte Anita und schlang die Arme um mich.
Das ging einige Wochen so, dann stellten sich bei mir Ausfallssymptome ein. Vor allem die erste Schicht von 6 bis 14 Uhr stellte mich vor ernsthafte Probleme. Ich hockte mit verquollenen Augen zwischen den Bändern und brachte kaum einen Rucksack hoch. Seit sie beim Umziehen die Bißmale an meinen Schultern entdeckt hatten, sparten meine Kollegen nicht mit eindeutigen Kommentaren, wenn ich morgens beim ersten Gepäckkarren schon eimerweise Schweiß vergoß. Vor allem den Türken sah ich an, daß sie mich für ein ausgemachtes Schwein hielten, einen, der sich den Derwischen des Geschlechtstriebs restlos ausgeliefert hat.
»Was hast du gesagt, Anita?«
Wir saßen in der Traube, tranken Apfelwein und aßen Frikadellen, das heißt, Anita rauchte, ich aß die Frikadellen. Ich brauchte diese Kalorien. Die Traube war wie immer nachts, rappelvoll mit Säufern, Nutten, Junkies, Autodieben, Künstlern, Erotomanen und Angestellten des öffentlichen Diensts, die das alles auch waren, aber mit 13. Monatsgehalt und Rentenanspruch.
»Was meinst du, Schatz?«
»Was du gesagt hast.«
»Gar nix hab ich gesagt.«
Das stimmte auch, sie hatte mich nur unterm Tisch ans Bein getreten. Bei Anita war auch das eine Demonstration ihrer Zärtlichkeit, so gut wie ein saftiger Biß.
»Ich beeil mich ja«, sagte ich mit vollem Mund.
»Ich hab das aber wirklich nötig, die Schicht war der letzte Wahnsinn.«
»Lüg doch nicht, ihr sitzt doch nur rum und trinkt Bier.«
»Abgesehn davon, daß das nicht stimmt, kann auch das manchmal der letzte Wahnsinn sein.« Aber Anita konnte ich nichts vormachen, sie sah mich mit ihren achtzehnjährigen feuchten Samtaugen an und entdeckte im toten Winkel meiner Seele einen müden Typen, der die Nacht am liebsten in der Kneipe hockte und mit seiner Doppelexistenz als schreibender Gepäckarbeiter vor den Lehrerinnen und den stellvertretenden Juso-Ortsvorsitzenden angab, aber nie jemandem zeigte, was er denn nun schrieb. »Dabei würd ich so gern mal was von dir lesen«, meinte Anita und kniff mich zärtlich in die Halsschlagader.
»Ach, das ist doch alles Unsinn«, sagte ich und umklammerte ihre Hand. »Ich mach doch wahrscheinlich Karriere in der Gepäckabfertigung, dann hab ich diese Kulturbranche gar nicht nötig.«
Anitas Augen blitzten voller Ironie.
»Was für eine Karriere kann man denn bei der Gepäckabfertigung machen, Schatz?«
Ich bestellte noch eine neue Flasche Apfelwein und Sauren Fritz dazu. Die Frikadellen waren ziemlich fett gewesen.
»Sieh mal, Anita, erst werde ich Vorarbeiter hier auf dem Flughafen, aber nur, damit ich das von der Pike aufkenne. Und dann geh ich zur Lufthansa, ich hab mich schon erkundigt, zum Bodenpersonal, da kriegt man noch mal eine erstklassige Ausbildung, das muß man eben dann durchstehen, aber ich als Praktiker schaffe das mit links. Und wenn ich das geschafft habe, dann lasse ich mich ins Ausland versetzen, was hältst du davon? Abfertigungsleiter der Lufthansa in Bangkok, Stationschef in Kuala Lumpur. Oder willst du ewig beim Kaufhof bleiben?«
»Wieso ich, was hat das denn mit mir zu tun?«
»Na ja, falls wir zusammenbleiben.«
»Ach so, wir sind zusammen?«
»Wenn du ironisch wirst, siehst du am besten aus, Anita.«
Damit hatte ich mir wieder einen Tritt vors Schienbein eingehandelt, und doch sah ich das manchmal ganz deutlich vor mir: Angetan mit weißem Leinenanzug und Panamahut saß ich in meinem kargen Office in dem von Schlingpflanzen überwucherten Bürotrakt eines Flughafens irgendwo am Rand des asiatischen Dschungels und trank mit dem einarmigen Reporter von Newsweek Pink Gin, während ich ihm klarmachte, daß an den Gerüchten über ein Wiederaufleben der örtlichen Guerilla absolut nichts dran war; der Deckenventilator knarrte rheumatisch; in der Halle kampierten immer noch die drei Hippies aus Hannoversch-Münden in der vagen Hoffnung, ihre Rucksäcke würden sich doch noch wiederfinden; und wenn ich abends völlig zerschlagen aus meinem Jeep kletterte, dann wartete in dem Bungalow im schäbigen Teil des Europäerviertels Anita in einem seidenen Kimono aus Shanghai mit einem großen Krug Campari und der acht Tage alten Literaturbeilage der FAZ, und während sie mir sanft meine Schultern massierte, murmelte ich: Warte heute nacht nicht auf mich, Süßes, du weißt doch, die Frachtmaschine aus Frankfurt, vielleicht ist der Mixer für dich endlich dabei . . . und irgendwann in den frühen Morgenstunden, wenn ich Anatol Stern, den Piloten der Frachtmaschine, im Hotel abgesetzt hatte und die Dämmerung schon mit ihren rosigen Schatten den Urwald streifte, säße ich dann auf der Veranda und hämmerte noch eine Seite in die alte Olympia Splendid, diese rohen, unbehauenen, düsteren Sätze, die lange nach meinem frühen Tod an einem tückischen Sumpffieber im deutschen Feuilleton Furore machen würden.
»Ja, was ist?« Ich schreckte hoch. »Hast du was gesagt?«
»Du träumst mit offenen Augen«, sagte Anita.
»Komm, erzähl mir lieber was.« Ich erzählte ihr lieber was.
Anita wohnte bei ihren Eltern in meiner alten Westendgegend, und wenn die Eltern mit ihrem Camper unterwegs waren, verbrachte ich die Nacht manchmal dort. Es gab sogar Büchsen bier und die, Milch, die ich morgens auf nüchternen Magen brauchte, im Eisschrank, und wenn ich Sonntag die erste Schicht hatte, briet Anita mir Spiegeleier mit Schinken.
Abends ein Krimi im Fernsehen, dann ein bißchen Kneipe, dann wieder nach Hause und mit Anita unter die Dusche, frische Laken in ihrem Mädchenzimmer mit dem Duft nach Wäsche und Deospray und Maiglöckchen und ihrem makellosen braungebrannten Körper, der wie MokkaSahne duftete und wie alle heißen Träume schmeckte, das war schon nett, dieses jugendliche Kratzen und Beißen und Küssen und Proben und Schmecken und Stöhnen und die schimmernden Augen im Mondlicht, und dann noch ein Büchschen Bier. Es war auch häuslich, vielleicht ist es das, was du endlich mal haben solltest, dachte ich, wenn ich morgens nach einem letzten langen Kuß Richtung Hauptbahnhof zockelte, Richtung Airport, vorbei an gähnenden Nutten und ratlosen Säufern, vorbei an Wahlplakaten, die verkündeten, daß wir stolz sein konnten auf unser Land, vielleicht solltest du wirklich mit Anita zusammenziehen, drei Zimmer, Küche, Bad, oben im Nordend, gemütlich, Gepäckabfertigung und Kaufhof, vielleicht ein Kind, zur Ruhe kommen, die Narben verheilen lassen, nehmen, was kommt, die ÖTV, Palma de Mallorca, warum denn nicht, schreiben kannst du immer noch, und wenn nicht, wen juckt’s, was versäumst du denn, wer versäumt dich denn, eine gute Frau ist im kleinen Zeh noch besser als ein guter Roman, Literatur, was soll das denn noch, die guten Bücher gibt es ja schon, die kannst du ja lesen, wenn es abends nichts in der Glotze gibt und die Frau im Theater ist. Ich wußte aber, daß es diese Häuslichkeit nicht war, die ich suchte oder vermißte, sondern ein neues Milieu, denn wo Milieu war, war Heimat, und die fand ich, als ich das Schmale Handtuch enteckte.